Dienstag, 18. September 2012

La haine (1995)



"Dies ist die Geschichte einer Gesellschaft, die fällt. Während sie fällt, sagt sie, um sich zu beruhigen, immer wieder: Bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut, bis hierher lief’s noch ganz gut. Aber wichtig ist nicht der Fall, sondern die Landung!"

Das Leben in einer Banlieue ist scheiße. Eine etwas unbeholfene Übersetzung dieses Begriffs lautet Bannmeile, was den Kern der Sache jedoch besser trifft als all die anderen. Das müssen auch tagtäglich die drei jungen Protagonisten feststellen, die am Rande der Gesellschaft und doch mittendrin leben. Die drei Freunde Said (Saïd Taghmaoui), ein klein gewachsener, immer wieder unterdrückter Araber, Vinz (Vincent Cassel), ein hagerer und unberechenbarer Jude und Hubert (Hubert Koundé), ein muskulöser schwarzer Boxer, der eine durch die Stadt subventionierte Trainingshalle führte, welche letztendlich durch Unbekannte zerstört wurde. Diese drei Vertreter bis heute bestimmender Subkulturen leben alle in solch einem immer noch realitätsgetreuen Vorstadt-Ghetto am Rande von Paris in den Tag hinein, umgeben von Perspektivlosigkeit, Drogen, Kriminalität und Armut. Ihr Leben besteht darin, schlechtes Straßengras zu rauchen, andere zu beklauen, besser gestellte Eindringlinge in Form von touristenartig agierenden Reporterteams aus ihrem Viertel zu vertreiben oder sich auf Dächern im Viertel mit anderen Bewohnern bei einem Barbecue zu treffen. Allgemein bewegen sie sich scheinbar fernab von Schulen oder elterlichen Autoritäten innerhalb der Hochhausschluchten. Dennoch hat in diesem Bezirk aber letztendlich die Pariser Polizei die Oberhand und so kommt es, dass diese bei einem beinahe schon "routinemäßigen" Aufstand einen Jugendlichen aus der Banlieue anschießt. Im Zuge dessen klaut Vinz die Dienstwaffe eines der Beamten und die Katastrophe ist perfekt ...




Denn der junge Abdel (Abdel Ahmed Ghili) führt einen Todeskampf, was die Aggressionen der Bewohner, allen voran Said, Vinz und (notgedrungen) Hubert, in puren Hass umschwenken lässt - Hass gegen die Trostlosigkeit, den Staat und vor allem gegen die Polizei, das (an)greifbarste aller Feindbilder. Da die Stimmung im Viertel nun überzukochen droht, trifft es sich gut, dass "einer aus'm Viertel" einen Amateur-Boxkampf im Zentrum zu absolvieren hat, welchen sich die drei Jungs natürlich nicht entgehen lassen wollen. Und so starten sie per Zug eine Reise in die Stadt, die alle von ihnen nachhaltig prägen wird ...



Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Mathieu Kassovitz, seines Zeichens selbst französischer Jude, legt hier nach dem eher bescheidenen Métisse seinen ersten richtigen, einem breiteren Publikum zugewandten Langspielfilm hin, welcher im Deutschen direkt übersetzt als Hass benannt und unter anderem in Cannes und beim Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde.



Völlig in Schwarz-Weiß-Optik gehalten, präsentiert er hier eine von französischen und franko-afrikanischen Rap-Acts untermalte Milieustudie, der nicht schon allein in Bezug auf den Auslöser der Haupthandlung ein reales Ereignis zugrunde liegt: Im Jahre 1993 wurde während eines Verhörs auf einem Pariser Polizeirevier der 16-jährige Zairer Makomé Bowole durch einen Kopfschuss aus einer Polizeiwaffe getötet. Bowole war zu diesem Zeitpunkt mit Handschellen an einen Heizkörper gefesselt. Die Ausschnitte am Anfang des Filmes sind Videodokumente der sich im Anschluss ereignenden Krawalle. Immer wieder werden im Film Situationen dargestellt, die sich an diesen Ereignissen, nachfolgenden realen Begebenheiten oder sogar anderen zeitgenössischen gesellschaftskritischen Filmen (wie in einer Szene Scorsese's Taxi-Driver) orientieren.



Aufgrund dessen ist die beinahe dokumentarisch anmutende, triste und verzweifelte Atmosphäre dieses Werkes durchaus gewollt und macht es zu weit mehr, als nur einem Film. An allen Ecken findet sich Kritik am Frankreich der 90er, früherer Tage, aber auch (vorgreifend?) am heutigen Alltag in diesem Land. Nicht ohne Grund kann man das am Anfang aufgeführte Zitat getrost auf die z.B. 2005 stattfindenden (Rassen-) Krawalle übertragen, welche ebenfalls zuvor vorgefallene Negativereignisse heraufbeschworen hatten.
Zaid, Vinz und Hubert, welcher von allen immer noch der vermeintlich Vernünftigste, doch am meisten Verzweifelte zu sein scheint, geraten auch auf ihrer Reise ins Innere der Hauptstadt immer wieder an ihre persönlichen Grenzen in einer Welt, die ihnen so nah, doch im Grunde wiederum so fern ist. Sei es nun die persönliche Eskalation auf einer Ausstellung snobistischer Kunstaffiner, die Probleme der Fortbewegung eines geknackten und kurz geschlossenen Wagens, oder das Aufeinandertreffen mit Rechtsextremen.



Besonders das Thema der heute immer noch präsenten Ausländerfeindlichkeit ist allgegenwärtig. Beispielsweise wird es im Hauptteil in einer Szene angesprochen, wo Said einem Passanten, welcher an einer Ubahn-Station gemächlich auf der Rolltreppe nach unten fährt, vorwirft, er würde zu all jenen Zeitgenossen gehören, die Jean-Marie Le Pen, einen seit den 70er-Jahren beinahe 40 Jahre aktiven Rechtspolitiker und Fremdenfeind, gewählt haben, weil sie in ihrem Leben ja all die Zeit der Welt hätten, dementsprechend mit dem Strom schwämmen und sich nicht um den Dreck scherten. Wesentlich härter trifft es hier jedoch eben angesprochenen Said beim Verhör in einem abgeschotteten Raum einer Innenstadt-Station nach dem missglückten Besuch von Vinz' Freund Astérix (François Levantal), wo er nach einer spontanten Festnahme gemeinsam mit Hubert Bekanntschaft mit französischer Polizeigewalt machen muss.



Dieses (immer noch) zeitlose Dokument des Alltags eines zerrütteten (Vorstadt-) Frankreichs wurde bereits ungekürzt bei den beiden einzigen lohnenswerten deutschen TV-Sendern 3sat und arte sowie im ZDF ausgestrahlt und letztendlich bei Arthaus digital veröffentlicht. Mathieu Kassovitz spielt hier ironischerweise in einer kleinen Rolle den Rechtsextremen, der von den drei Hauptakteuren auseinander genommen wird, des Weiteren ist auch Philippe Nahon im ersten Drittel kurz als Polizeichef der Wache im Viertel zu sehen.
Des Weiteren war dies für den damals knapp 30 Jahre alten Vincent Cassel nach Métisse, wo er neben Kassovitz und Hubert Koundé eine tragende Rolle spielte, ein Sprungbrett in größere Rollen. Nahm er doch nach der Hauptrolle im zwei Jahre später erschienenen Dobermann schließlich im Jahre 2000 neben Jean Reno in Die purpurnen Flüsse (ebenfalls unter Regie von Kassovitz) die Jagd nach einem irren Killer in den Alpen auf und wurde spätestens im 2002 veröffentlichten Ausnahmefilm Irreversibel von Mastermind Gaspar Noé als Marcus einem breiteren Publikum bekannt. Ganz im Gegensatz zum hier ebenfalls brillant agierenden Saïd Taghmaoui, welcher seitdem bislang nur in eher belanglosen Rollen bzw. als Klischee-Araber aufwarten konnte.


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